Weihnachtsgeschichte II: Hippie & Champagner

Eine Aufgabe zur simmethschen Teamweihnacht dieses Jahr war, dass jeder im Team aus zufällig gezogenen Begriffen eine Weihnachtsgeschichte schreiben sollte um diese dann zu unserem besonderen Abend vorzutragen. Wie zu erwarten ist daraus jede Menge “Feeenstaub” entstanden. Drei dieser Geschichten wollen wir hier mit dir deshalb teilen…
Hippie & Champagner
von Frank Simmeth
Ich hatte den Wecker gar nicht gebraucht. Als das Ding um 7:00 Uhr klingelte, war ich schon mehrere Stunden wach und grübelte darüber nach, wie ich diesen Tag wohl hinter mich bringen könnte. Ja, es war kurz vor Weihnachten, und Abend für Abend in der Bahn war ich umringt von kleinen Gruppen, die entweder gut gelaunt auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt waren und sich auf Glühwein freuten, oder von Einzelnen, die wohl schon auf dem Rückweg waren und deren stiller Blick nach unten sowie ihre roten Nasen vermuten ließen, dass sie nach dem dritten oder vierten Glühwein entweder das Zählen aufgegeben hatten oder einfach den Überblick verloren hatten.
Natürlich gab es in der Bahn auch andere, die wie ich allen ihre Kommunikationsbereitschaft mit einem unnachgiebigen Blick aus dem Fenster klar zum Ausdruck gaben und bei denen, ebenfalls wie bei mir, jeder Gesichtsmuskel die eindeutige Haltung zur Vorweihnachtszeit laut verkündete. Oh du fröhliche? Alle Jahre wieder? Egal!
So richtig war mir nicht nach Weihnachten. Bei uns in der Agentur sah zumindest gar nichts nach Lametta aus. Ganz im Gegenteil. Die Stimmung war eher Richtung Nordpol als nach Herzenswärme. Was würde wohl im nächsten Jahr aus uns werden, wenn wir diesen wichtigen Auftrag nicht gewinnen? Soweit so gut, aber dass der Kunde, ein wichtiges mittelständisches Unternehmen, die Entscheidung eben noch am 23. Dezember treffen musste, war doch wirklich nicht notwendig, oder?
So gab es dieses Jahr bei uns eben statt Stollen, Keksen und einem Weihnachtsfest für unser Team nur Meetings, Präsentationen und jede Menge nachgebesserte Angebote. Der Austausch mit meinen Lieblingskollegen Peter und Lisa bestand seit Wochen außer einem knappen „Morgen“ und „Tschau bis morgen“ nicht mehr. Auch Torsten, unser Chef und Inhaber, zeigte sich nur noch kurz angebunden und verschwand dann wieder hinter seiner Bürotür.
Gedankenverloren schaltete ich den Wecker aus. Heute war Abgabetermin, und ich musste mir eingestehen, dass ich einfach keine Lösung gefunden hatte. Was würde Torsten sagen, wenn ich ihm das in etwa einer Stunde beichten musste? Gedankenverloren zog ich mich an, machte mich fertig, holte schnell noch einen Kaffee to go und schon war ich auf der kalten Straße zur Bahn.
An der Ampel vor dem kleinen Platz saß ein fülliger Obdachloser im kalten Wind am Boden. Die Haare zerzaust, der Bart so im Wildwuchs, dass nicht mehr wirklich auszumachen war, ob sich zwischen dem Gestrüpp irgendwo noch ein Mund abzeichnete. Die Kleidung war verschlissen, aber nicht schmuddelig. Er sah mich mit müden, aber überraschend klaren Augen an. Ich hörte mich sagen: „Deutschland kurz vor Weihnachten, und auf der Straße leben Obdachlose. Was für eine Schande.“ Er runzelte die Stirn und sagte: „Ich bin kein Obdachloser, ich bin ein Hippie.“
Überrascht von der Antwort hielt ich kurz inne und überlegte. Dann hielt ich ihm meinen Becher hin und fragte, vielleicht ein klein wenig zu gönnerhaft: „Heißer Kaffee?“ Jetzt runzelte er seine Stirn noch ein wenig tiefer und antwortete: „Ne! Wenn, dann trinke ich nur Champagner!“
„Ja klar, möglichst gleich ab halb acht morgens“, sagte ich noch kopfschüttelnd, dann ging ich weiter Richtung Bahn.
Als ich die Tür vom Büro öffnete, schlug mir wieder sofort die kalte, schwere Stimmung entgegen, gegen die die voll aufgedrehte Heizung seit Tagen scheinbar verzweifelt versuchte anzukämpfen. Die anderen waren schon da und hinter blau schimmernden Monitoren vertieft. Hier und da ein kurzes Nicken, sonst blieb mein Erscheinen eher unbemerkt.
Kaum am Platz angekommen und mein eigenes forderndes Arbeitsmonster mit einem Klick am Monitor aus dem Schlaf gerissen, stand auch schon Torsten vor mir. Er war leicht blass, hatte die Lippen etwas zusammengepresst. Er wartete schweigend eine Sekunde zu lang, bevor er sagte: „Hast du einen neuen Vorschlag dabei, wie wir das heute lösen können?“
Ich antwortete nicht, sondern beobachtete, wie sich pflichtbewusst nach und nach alle Symbole auf meinem Bildschirm aufbauten und auf weitere Anweisungen warteten. Dann schüttelte ich nur den Kopf.
Ich sah, wie die leichte Blässe aus Torstens Gesicht langsam einem wolligen Rosa wich. Dann platzte es aus ihm heraus: „Ist dir wohl egal, wie es mit uns weitergeht? Noch Anfang des Jahres sagtest du, dass ich dich einfach lassen solle, du wüsstest schon, wie du deinen Job machen musst. Und jetzt, wo es mal wirklich wichtig wäre, bist du anscheinend grad leer, oder was?“
Durch meinen Kopf schossen Gedanken wie Blitzlichter, von denen man zwar alle sehen konnte, aber eben keinen wirklich fassen. Dann erschienen die Worte plötzlich klar vor mir, und ich sagte: „Nein, eigentlich bin ich nur ein Hippie. Und ganz ehrlich, mir ist gerade nach einem Glas Champagner.“
Torsten fiel die Kinnlade herunter. Und ich spürte, wie alle Blicke der anderen auf mich gerichtet waren. Plötzlich war es ganz ruhig geworden im Büro. Lisa war die Erste, die zu kichern anfing. Peter stimmte mit ein, dann Moritz und schließlich auch Torsten und alle anderen, sodass auf einmal das ganze Büro von hellem Gelächter erfüllt war.
Moritz kam spontan rüber zu mir und nahm mich in den Arm. Er sagte: „Echt jetzt? Ich könnte nämlich ein Glas Champus jetzt auch ganz gut vertragen!“ Jetzt gab es kein Halten mehr. Alle lachten, selbst Torsten, und er sagte: „Ich übrigens auch.“ Maria merkte an: „Ich hab übrigens zufällig ein paar Kekse mitgebracht, nur so für den Fall der Fälle.“
Plötzlich spürten wir alle die Herzenswärme, die die Kühle der letzten Zeit restlos vertrieb.
Es ging überraschend schnell: Jeder übernahm etwas, und bis wir uns umsehen konnten, war das Büro dekoriert – spärlich, aber immerhin. Wir saßen zusammen, jeder hatte ein Glas oder einen Becher in der Hand, in der Mitte standen ein paar Leckereien, und wir erzählten uns gegenseitig Geschichten über schräge Weihnachten und den ganzen Wahn.
Es war kurz nach Mittag, als das Telefon klingelte und wir alle innehalten. Jeder wusste, dass das unser Kunde sein musste. Torsten ging ran. Nach ein, zwei Sätzen sagte er: „Ja, aber das geht heute leider nicht mehr. Wir sitzen gerade zusammen und feiern zumindest ein klein wenig uns und Weihnachten.“
Nach dem Gespräch legte er auf und verkündete: „Er sagte, dass wir unbedingt recht hätten, und hat sich entschuldigt. Wir sollen uns gleich Anfang Januar melden.“
Der Tag endete überraschend früh. Gedankenverloren ging ich nach Hause und traf an der Ampel am kleinen Platz wieder auf den „Hippie“. Ich sagte: „So von Hippie zu Hippie, magst du mir ein wenig Gesellschaft leisten, bei mir im Wohnzimmer ist zwar nicht aufgeräumt, aber für einen kleinen gemeinsamen Imbiss reicht es. Und ich glaube, ich habe noch eine Flasche Champagner kalt.“
Seine Stirn runzelte sich erneut, aber nach kurzem Überlegen sagte er: „Okay, ausnahmsweise!“